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  • Veröffentlichungsdatum 07.07.2025
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„Ich bleibe erste Ansprechpartnerin für meine Patient*innen!“

Interview mit Dr. Anke Pielsticker, Stv. DPtV-Bundesvorsitzende
Dr. Anke Pielsticker

Das „Primärarztsystem“ sorgt aktuell für einige Diskussion unter Psychotherapeut*innen. Dr. Anke Pielsticker erläutert, was DPtV-Mitglieder zum Thema wissen sollten.

Frau Dr. Pielsticker, woher kommt plötzlich das Thema „Primärarztsystem“?

Die Einführung eines „verbindlichen Primärarztsystems” ist ein gesundheitspolitisches Vorhaben der neuen Regierung und wurde im Koalitionsvertrag vereinbart. Dabei sollen Hausärzt*innen die erste Anlaufstelle für gesetzlich Versicherte im Krankheitsfall sein. Im Primärarztsystem sollen Patient*innen zunächst ihre Hausarztpraxis aufsuchen. Dort erfolgt eine Ersteinschätzung und gegebenenfalls eine Weiterleitung an Fachärzt*innen.

Welche Auswirkung hat das Thema auf die psychotherapeutische Praxis?

Bei der Umsetzung eines Primärarztsystems wäre der Direktzugang zur Psychotherapie in Gefahr. Seit dem Psychotherapeutengesetz und der Anerkennung des Berufs der Psychologischen Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen als akademischen Heilberuf besteht für Patient*innen die Möglichkeit, sich ohne Überweisung direkt an eine psychotherapeutische Praxis zu wenden.

Gibt es eine zeitliche Planung? Wann müssen wir mit der Umsetzung rechnen?

Ursprünglich wurde die Umsetzung eines Primärarztsystems noch für 2025 angestrebt. Derzeit gibt es jedoch noch kein Gesetzgebungsverfahren, in dem sich der Gesetzgeber zum Primärarztsystem positioniert. Aufgrund der Komplexität der Thematik und der intensiv geführten Diskussion ist aber frühestens 2026 mit einer Etablierung zu rechnen. Wir halten es daher für verfrüht, schon jetzt eine Petition oder Ähnliches zum Erhalt des Direktzugangs einzubringen. Denn zum aktuellen Zeitpunkt wissen wir noch nicht, was der Gesetzgeber konkret plant.

Worin genau liegt das Problem?

Die innere Hürde, sich mit den eigenen Problemen an eine*n Psychotherapeut*in zu wenden, ist oft sehr groß und braucht einen großen Vertrauensbonus. Soll hier noch eine weitere bürokratische Hürde für die Patient*innen eingezogen werden, indem sie zunächst eine Überweisung vom Hausarzt einholen und sich dort bereits vorab mit ihren Problemen offenbaren müssen? Der niedrigschwellige und überweisungsfreie Zugang zur Psychotherapie ist im SGB V geregelt. Alles andere wäre ein Rückschritt und eine Verschlechterung der Versorgung. Wir Psychotherapeut*innen sind für unsere Patient*innen mit ihren psychischen Beschwerden oft die ersten und zentralen Ansprechpartner.

Könnten die Hausärzt*innen Ihrer Meinung nach die Steuerung überhaupt leisten?

Meiner Meinung nach wäre es fraglich, ob die zwei Millionen Neupatient*innen pro Jahr in den Hausarztpraxen tatsächlich zeitnah eine Überweisung bekämen. Denn immerhin sind aktuell über 5000 Vertragsarztsitze für Hausärzt*innen, insbesondere in ländlichen Regionen, unbesetzt. Zudem braucht es spezifische Kenntnisse, die Relevanz psychischer Probleme zu erkennen und die Indikation für eine Psychotherapie zu stellen. In der Psychotherapeutischen Praxis stehen hierfür drei Sprechstundentermine à 50 Minuten zur Verfügung. Ergänzend wird in der Regel auch eine testdiagnostische Untersuchung durchgeführt. Auf dieser Basis erfolgt dann eine qualifizierte Diagnose und die Entscheidung darüber, ob eine Psychotherapie indiziert ist oder ob alternativ auch Beratungsleistungen oder Selbsthilfegruppen empfohlen oder auf Präventionsleistungen hingewiesen werden kann. Es ist für mich nicht vorstellbar, dass ein solch komplexer Entscheidungsprozess im Rahmen einer Hausarztpraxis zu leisten wäre.

Was ist denn überhaupt das Ziel der Steuerung?

Sicher geht es zunächst um finanzielle Einsparungen. Es sollen Doppeluntersuchungen und Parallelbehandlungen bei Fachärzt*innen vermieden werden, um die maximale Kapazität für die Versorgung bereitstellen zu können. Das ist ein wichtiges Anliegen des Koalitionsvertrages. Doch in der Psychotherapie gibt es gar nicht die Möglichkeit einer Parallelbehandlung. Die Psychotherapie ist durch die Krankenkassen genehmigungspflichtig, so dass immer nur eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen wird. Zudem wird bei Langzeittherapie ein externer Gutachter eingeschaltet, der die Indikation für eine Fortführung der Behandlung prüft. Mit dem Antrags- und Genehmigungsverfahren durch die Krankenkassen wird also die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit geprüft, die vom Gesetzgeber gewünscht wird. Steuerung hat aber auch eine inhaltliche Funktion. Es sollen die „richtigen“ Störungen und Patient*innen behandelt werden. Diese wird im Rahmen der Psychotherapie von uns Psychotherapeut*innen im Rahmen der Sprechstunde, die 2017 in die Psychotherapie-Richtlinie aufgenommen wurde, sehr differenziert und zielführend durchgeführt. Es wurde damit ein niedrigschwelliger und kurzfristiger Zugang zur Psychotherapie geschaffen.

Also gibt es „de facto“ schon eine Steuerung in der Psychotherapie?

Eine Evaluation des Gemeinsamen Bundesausschusses ergab, dass 40 Prozent der Patient*innen im Anschluss an die Sprechstunden innerhalb eines Jahres keine weiteren psychotherapeutischen Leistungen in Anspruch nehmen. Die übrigen Patient*innen erhalten zum Teil zeitnah in derselben Praxis einen Therapieplatz oder müssen noch einige Zeit warten. Die Steuerung in den Psychotherapie-Praxen funktioniert!

Was fordern Sie, was fordert die DPtV?

Auch in einem geplanten Primärarztsystem muss der niedrigschwellige, direkte Zugang zur psychotherapeutischen Sprechstunde erhalten bleiben und psychisch erkrankten Menschen zeitnah zur Verfügung stehen. Der Direktzugang zur Psychotherapie ist für uns Psychotherapeut*innen und für unsere Patient*innen nicht verhandelbar. Damit Psychotherapeut*innen selbst effizient steuern können, sollten auch unsere Befugnisse erweitert werden. Als Psychotherapeut*innen sollten wir bei Indikation für eine zusätzliche medikamentöse Behandlung systematisch an Psychiater*innen oder Hausärzt*innen überweisen können. Darüber hinaus sollten Psychotherapeut*innen auch die Befugnis erhalten, bei psychischen Erkrankungen die Arbeitsunfähigkeit bzw. die Arbeitsfähigkeit zu bescheinigen.

Sie sind auch stellvertretende Versammlungsleitung in der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Wie sieht die Position der KBV in Bezug auf den Direktzugang aus?

Die KBV beschäftigt sich schon länger mit der Frage der Steuerung in der ambulanten medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung. Ihr Konzept enthält Vorschläge zur Patientensteuerung in der Notfallversorgung, in der akuten und dringlichen ambulanten Versorgung sowie in der Regelversorgung. Im Rahmen einer Klausurtagung der Vertreterversammlung konnten wir erreichen, dass für die Psychologischen Psychotherapeut*innen und für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen eine Ausnahme von der Steuerung vorgesehen wird. In dem Positionspapier der KBV steht nun eindeutig, dass PP/KJP weiterhin ohne Überweisung aufgesucht werden können und hier keine Steuerung erforderlich ist. Innerhalb der KBV werden wir mit unserem Anliegen klar unterstützt. Mit diesem Positionspapier wendet sich die KBV nun an die Politik.

In welchen weiteren Gremien oder berufspolitischen Aktivitäten setzen Sie sich für den Erhalt des Direktzugangs ein?

Als DPtV nutzen wir jede Gelegenheit uns für den Erhalt des Direktzugangs zur Psychotherapie einzusetzen. In Kontakten zu Politiker*innen drängt die DPtV darauf, dass der Direktzugang zur Psychotherapie nicht verhandelbar ist.  Auf dem 46. Deutschen Psychotherapeutentag in Leipzig wurde am 16./17. Mai 2025 eine Resolution mit dem Titel „Qualifizierte Steuerung von Patient*innen durch Psychotherapeut*innen stärken!“ verabschiedet.

Erlauben Sie mir abschließend noch ein persönliches Statement. Auf vertrauensvolle Art wenden sich täglich hilfesuchende Patient*innen an meine Praxis – mit E-Mails wie dieser: „Ich bin vor kurzem aus der Psychiatrie entlassen. Es wurde bei mir eine schwere depressive Störung diagnostiziert. Ich habe mein Leben nicht mehr im Griff und brauche dringend psychotherapeutische Hilfe.“. Als Psychotherapeutin bin ich gerne als erste Ansprechpartnerin für meine Patient*innen da – und das möchte ich bleiben!