LunchTalk 2022

Solidarität und Spaltung in Krisenzeiten

„Gerade in Krisenzeiten ist der gesellschaftliche Zusammenhalt besonders wichtig – aber auch besonders gefährdet“, eröffnete Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV), den LunchTalk 2022. Unter der Überschrift „Solidarität und Spaltung in Krisenzeiten“ verfolgten 600 Teilnehmer*innen die Vorträge von Prof. Dr. Jule Specht (Humboldt-Universität Berlin) und Prof. Dr. Stephan Lessenich (Goethe-Universität Frankfurt).

Verständnis für andere Einstellungen

Sehr konkrete Auswirkungen von Solidarität erforschte Prof. Dr. Jule Specht in einer Studie: Wer erhielt während der Corona-Pandemie welche Unterstützung von wem? Für die Bewältigung der Krise war Solidarität von erheblicher Bedeutung, soziale Unterstützungsangebot durch Kontaktbeschränkungen jedoch erheblich eingeschränkt. Die Professorin für Persönlichkeitspsychologie fand heraus, dass offene und extrovertierte Personen, die bereits sozial gut integriert waren, mehr Unterstützung erhielten. Soziale Netzwerke in der Corona-Pandemie erst aufzubauen war jedoch erheblich erschwert. 45 Prozent der Befragten erhielten soziale Unterstützung von Personen außerhalb ihres Haushalts – zehn Prozent erhielten nicht ausreichend Unterstützung. Diese Erkenntnisse sollten bei der Bereitstellung von Hilfen insbesondere durch die Zivilgesellschaft zukünftig Berücksichtigung finden. Ein weiteres Forschungsthema ist die Solidarität im Ukraine-Krieg: „Empathische Menschen haben eher pro-migrantische Einstellungen und eher Verständnis für andere Einstellungen“, folgerte Prof. Specht.

Begriff „Solidarität“ nicht überdehnen!

Prof. Dr. Stephan Lessenich leitet schon länger empirische Forschungsprojekte zu solidarischem Handeln. Im LunchTalk warnte er vor einer „Überdehnung“ des Begriffs Solidarität sowie vor dem Verlust begrifflicher Trennschärfe – etwa zur Kooperation, Empathie oder Hilfe. Der Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung stellte in der Corona-Krise eine „Hochkonjunktur“ und extreme Bandbreite des Solidarität-Begriffs fest: vom Maskentragen bis hin zum Klatschen vom Balkon. Solidarität sei jedoch vielmehr „eine kollektive soziale Praxis, die gesellschaftliche Probleme identifiziert und kooperative Formen ihrer Bearbeitung etabliert und auf die Veränderung der gesellschaftlichen Problemverursachungsstrukturen zielen“. Solidarität beinhalte Grenzziehung und sei zudem nicht harmlos. Man müsse sie durchsetzen gegen ein soziales Gegenüber – etwa gegen die Arbeitgeber*innen von unterbezahltem Pflegepersonal.

Solidarität kein Privileg der Wohlmeinenden

In der Diskussion antworteten die Expert*innen auf die Fragen der LunchTalk-Teilnehmer*innen. Während Prof. Lessenich der Meinung war, dass Solidarität Ressourcen benötige, die nicht jeder zur Verfügung habe, verwies Prof. Specht auf die Aktivitäten Nichtprivilegierter wie Student*innen hin. Gerade in der Unterstützung von Flüchtlingen seien diese sehr aktiv gewesen Auf solidarische Strukturen im rechten Spektrum angesprochen, betonte Prof. Lessenich, Solidarität sei kein Privileg der Wohlmeinenden. Die Frage des Nutzens für die allgemeine Gesellschaft entscheide sich auch im „Kampf der Solidaritäten“. In der Frage nach Unterschieden zwischen Stadt und Land sah Prof. Lessenich kein quantitatives Gefälle, jedoch eine Tendenz zu längerfristigen Netzwerken im ländlichen Raum.

Unsere Podiumsgäste

Prof. Dr. Jule Specht 
ist Professorin für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Sie studierte Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo sie 2011 auch promoviert wurde. Anschließend war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und akademische Rätin an der Universität Leipzig tätig, bevor sie 2012 einem Ruf auf eine Juniorprofessur an der Freien Universität Berlin folgte. 2014 wurde sie mit dem Berliner Wissenschaftspreis für Nachwuchswissenschaftler ausgezeichnet und für fünf Jahre in die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina aufgenommen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Persönlichkeitsentwicklung und politische Psychologie.

© Frank Röth

Prof. Dr. Stephan Lessenich 
ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS). Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte an der Philipps-Universität Marburg, wurde an der Universität Bremen promoviert und an der Georg-August-Universität Göttingen habilitiert. Er hatte Professuren an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (2004-2014) sowie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2014-2021) inne und war von 2013 bis 2017 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Im September 2022 erscheint von ihm „Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ bei Hanser Berlin.